1.052 Minihäuser auf engstem Raum, jeweils 18,8 Quadratmeter klein: Das Olympiadorf München darf sich ohne Übertreibung größte und älteste Tiny-House-Siedlung Deutschlands nennen. Wie lebt es sich in dieser städtebaulichen Utopie?
Seit 1972 haben Zehntausende im "Olydorf" selbst erfahren, wie es sich in einem Mini-Haus so lebt. Die 1.052 kleinen Häuser heißen hier allerdings nicht Tiny Houses oder Tiny Homes – diese Begriffe sind erst seit den 2000ern populär. Die 18,8 Quadratmeter kleinen Häuschen im Münchner Olympiapark heißen Bungalows, die von den in ihnen lebenden Studenten liebevoll "Bungis" genannt werden.
Geschichte der Bungalows im Münchner Olympiadorf
Das "Studentenviertel Oberwiesenfeld" – so die offizielle Bezeichnung – hat eine besondere Geschichte. Anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1972 plante der Architekt Werner Wirsing dort Unterkünfte für die Athletinnen. Das Gelände gehörte damals bereits dem Studentenwerk München. Es war klar, dass vor und nach Olympia Studierende in den Bungalows wohnen sollten.
Dass es letztlich nur ein Bewohner pro Haus wurde, ist durchaus kurios. Denn ursprünglich hatte Architekt Wirsing die Unterkünfte ganz anders geplant: Zwei- bis dreigeschossige Gebäude sollten es werden. Doch den Entwurf verwarf der spätere Professor wieder. Die Sache habe ihn nicht losgelassen, erzählte der 2017 verstorbene Architekt einmal. Irgendwann hatte Wirsing, den die Süddeutsche Zeitung in ihrem Nachruf als den "wichtigsten Experimentator auf dem Gebiet des studentischen Wohnens" würdigte, die spontane Eingebung: "Jeder braucht sein eigenes Häuschen!"
Olympiadorf München von 1971 bis 2007
Und so entstanden von Mai 1970 bis Mai 1971 unweit des Olympiastadions insgesamt 800 würfelförmige Mini-Häuser in recht schlichter Beton-Bauweise, jeweils 23 Quadratmeter groß, aufgereiht in sieben Bereiche von A bis G, Wohnanschrift Connollystraße 3. Die Studentinnen und Studenten machten ihr Olydorf schnell zu einer einzigartigen Wohngemeinschaft, an die sich wohl (fast) alle Bewohner mit großer Freude erinnern.
Doch nach 35 Jahren war klar: Alle Bewohner müssen raus, die Bungalows waren baufällig geworden. Undichte Dächer und Wasserleitungen, Schimmel, mangelhafte Dämmung. Eine Sanierung der Bungalows kam nicht infrage. Viel zu teuer. Im August 2007 wurden – zum Leidwesen der Bewohner – die ersten Bungalows abgerissen. Dass angesichts der Wohnraumknappheit in München beschlossen wurde, das Olydorf anschließend wieder neu aufzubauen, stieß bei den Studierenden hingegen auf große Begeisterung.
Planung und Aufbau der neuen Bungalows 2007 bis 2009
Der Neubau der Bungalows stellte eine große Herausforderung für die Architekten Ritz Ritzer und Rainer Hofmann von Bogevischs Büro in München dar. Auch Architekt Werner Wirsing war wieder mit von der Partie. "Eine der größten Herausforderungen war es, die Feinheit und Einfachheit der Originalbauten aus den 1970er-Jahren in brauchbare, technisch einwandfreie Konstruktionen zu übersetzen, ohne eben diese gestalterischen Qualitäten zu verlieren – und dabei auch noch eine eigene 'Note' zu entwickeln", sagt Hofmann. Vor- und Leitbild sei die Architektur der Nachkriegsmoderne gewesen.
40 Millionen Euro hat sich der Freistaat Bayern das neue Olympiadorf kosten lassen. "Weniger als befürchtet", sagt Architekt Rainer Hofmann. Aber teurer als ein normales Studentenheim sei es schon gewesen. Im Oktober 2009 konnten die ersten Studierenden in die neuen Bungalows einziehen.
Die neuen Bungalows 2009 bis heute
Das neue Olydorf besteht aus 1.052 Bungalows, das sind 252 mehr als vorher. Hofmann und Ritzer schufen den Raum, indem sie die Mini-Häuser etwa einen Meter schmaler gestalteten als die Originale. Die heutigen Bungalows messen in der Breite 3,15 Meter. Insgesamt steht den Studenten auf zwei Stockwerken eine Wohnfläche von 18,8 Quadratmetern zur Verfügung, dazu gehört auch ein kleiner Balkon.
Die Bungalows sind dabei alle gleich aufgebaut und stehen jeweils zu zweit in spiegelverkehrter Richtung nebeneinander. Ihre Flachdächer sind begrünt. Direkt hinter der Eingangstüre befindet sich eine kleine Küchenzeile mit Spüle und zwei Herdplatten, der untere Raum ist außerdem zum Wohnen und Essen gedacht. Ein kleines Badezimmer findet neben der schmalen Treppe zum Obergeschoss seinen Platz. Im oberen Stockwerk können die Studenten arbeiten und schlafen. Jeder Bungalow ist standardmäßig mit Bett (2 x 1 Meter), einem Schreibtisch, einem kleinen Schrank und einem Klapptisch zum Essen ausgestattet.
Das beengte Leben im Bungalow
18,8 Quadratmeter Wohnfläche – das ist nicht gerade viel. Wie lebt es sich also in diesen Tiny Houses? "Es ist schon recht eng", sagt Max Gögelein. Der Jurastudent wohnt seit Mai 2018 in einem der Bungalows. Gögelein hat ein Semester in einer normalen Wohnung in München gelebt, bevor er in seinen Bungalow gezogen ist. Eine Zusage hatte er jedoch schon zwei Monate nach Studienbeginn.
Natürlich habe sich sein Leben geändert, seit er im Dorf wohnt, sagt Gögelein. Mittlerweile hat er zum Beispiel seine Klamotten aufgeteilt in Sommer- und Wintergarderobe. Je nach Jahreszeit bringt er das, was er nicht braucht, zu seinen Eltern. "Für alles ist der Schrank einfach zu klein."
Die Miete werde jedes Jahr angepasst, sagt der Olydorf-Bewohner. Aktuell beträgt die Warmmiete 344,80 Euro pro Monat – ein Schnäppchen, wenn man sie mit den üblichen Mietpreisen in München vergleicht. "Es war schon eine Umstellung, von der Wohnung in den Bungalow zu ziehen, aber die geringe Miete hat mich über den wenigen Platz leicht hinweggetröstet."
Außerdem schätzt Gögelein die Gemeinschaft im Dorf. "Es gibt hier alles, was du brauchst", sagt der Student.
Das bunte Leben im Olympiadorf München
Supermärkte, Kiosk, Geldautomat, Briefkasten, Ärzte, Sportplätze – alles ist vom Olydorf in wenigen Fußminuten erreichbar. Und wer doch mal raus muss: Die U-Bahn- und Busstation Olympiazentrum ist ebenfalls direkt ums Eck. Fahrzeit mit der U3 zum Marienplatz: elf Minuten.
Das Leben im Olydorf ist international, mehr als die Hälfte der Bewohner stammt aus dem Ausland. Und genau dieses Miteinander macht das Leben in Deutschlands größtem Tiny-House-Dorf aus: Im Sommer grillt der Mexikaner mit dem Nachbarn aus Bad Griesbach. Die Spanierin sitzt im spontan aufgebauten Planschbecken neben dem Finnen und trinkt Augustiner, während auf der großen Wiese der Franzose dem Berliner das Rugbyspielen näher bringt. Und wer die Nase voll hat von dem ganzen Trubel, der geht einfach in sein eigenes Häuschen und macht die Türe zu.
Die Bungalows sind nach wie vor das beliebteste Wohnheim Münchens.
Architekt Rainer Hofmann
Das besondere Flair interessiert auch viele Touristen, die sich staunend durch die Gassen der bunt bemalten Bungalows schieben und manchmal sogar klingeln, um eine kleine Besichtigung zu erbitten – was übrigens auf wenig Gegenliebe bei den Bewohnern stößt. Zwar kommen auch mal Touristen wegen des Hypes um Tiny Houses, aber vor allem weil das Olympische Dorf ein historischer Ort ist: In den Reihenhäusern direkt neben den Bungalows fand 1972 die dramatische Geiselnahme der israelischen Olympiateilnehmer statt. Beim Münchner Olympia-Attentat kamen elf Geiseln, fünf Geiselnehmer und ein Polizist ums Leben.
Der Verein "Studenten im Olympiazentrum e.V."
Für das bunte Leben im Olydorf sorgt vor allem der Verein "Studenten im Olympiazentrum", dem Max Gögelein seit August 2019 als erster Vorsitzender vorsteht. Der Verein sei wie ein "kleines Unternehmen", erklärt Gögelein. Es gibt verschiedene Ausschüsse, wie den Kulturausschuss, der die Zeitung "Dorfbladl" herausbringt. Außerdem betreibt der Verein eine Disko, eine Bar und eine Bierstube, die auch von Nichtbewohnern besucht werden können. Vor und nach Konzerten und Veranstaltungen im nahegelegenen Olympiastadion wird es besonders voll.
Mit dem Gewinn finanziert der Verein wiederum andere Projekte. Wie zum Beispiel die beiden Bienenvölker, die der Verein umsorgt. Ein Tiermedizinstudent sei vor kurzem auf die Idee gekommen. Jetzt produziere der Verein seinen eigenen Honig, berichtet Gögelein. Außerdem gibt es eine Dorfwerkstatt, die auch über den Verein läuft. Hier werden speziell für die Bungalows angepasste Möbel wie Bettvergrößerungen oder Schubladen, die unter der Treppe angebracht werden können, hergestellt und verkauft.
Außerdem veranstaltet der Verein regelmäßig "Olympische Spiele", verleiht Farben – jeder Bewohner kann seinen Bungalow individuell bemalen – und Bänke, organisiert Grillfeste und vieles mehr. Mit der Arbeit in den gastronomischen Betrieben können sich die Studierenden ein wenig Geld dazuverdienen.
Bildergalerie: Die bunten Bungalows von früher bis heute
So wird und bleibt man Bewohner im Olympiadorf
Aktuell warten Studierende im Durchschnitt vier Semester auf einen Platz im Olympischen Dorf, informiert das Studentenwerk München. Direkt für einen der 1.052 Bungalows kann man sich nicht bewerben – bei einer Zusage bekommt man eventuell auch eine der Wohnungen in den gegenüberliegenden Hochhäusern zugeteilt.
Grundsätzlich gilt: Um sich überhaupt bewerben zu dürfen, muss man bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Nach der Bewerbung, die mittlerweile online erfolgt, kommt man auf eine Warteliste. Alternativ gibt es auch immer wieder Verlosungen für Erstsemester, bei denen ein Bungalow "gewonnen" werden kann.
Maximal drei Jahre dürfen die Bewohner aktuell in einem der Bungalows leben. Das hat das Studentenwerk festgelegt. Dadurch wird eine gesunde Fluktuation im Olydorf gewährleistet. Allerdings kann man sich auch Wohnzeit "dazuverdienen", informiert Gögelein – mit der Arbeit im Studenten-Verein. Maximal drei Jahren zusätzliche Bungalow-Zeit können Studenten so bekommen.
Es lohnt sich. "Die Bungalows sind nach wie vor das beliebteste Wohnheim Münchens", sagt Rainer Hofmann. Der Architekt weiß, wovon er spricht: In seiner Studienzeit wohnte er selbst dreieinhalb Jahre in einem der Bungalows.
Olydorf München: Vorbild für andere Tiny-House-Dörfer?
Auch wenn das Olydorf München zahlreiche Bewunderer in der ganzen Welt hat, so ist es aus architektonischer und soziokultureller Sicht doch einzigartig geblieben. Aber vielleicht führt die Tiny-House-Bewegung dazu, dass die Bungalows als Vorbilder für neue Tiny-House-Dörfer dienen. Den Architekten Hofmann würde es freuen: "Das Projekt schreit geradezu nach Wiederholung."