Wohnen | Statement

Brief einer Mailänderin: Was mich mein italienischer Corona-Hausarrest gelehrt hat


Das Baby quengelt, der Hund will raus, der Partner muss am Computer arbeiten und ihre Stadt ist im Ausnahmezustand: Franca Meyerhöfer hätte jeden Grund gestresst zu sein. Wie die Mailänderin ihren Corona-Hausarrest erlebt und weshalb sie trotzdem positiv bleibt, schreibt sie uns in einem Brief.

Liebe Menschen in Deutschland,

vielleicht wart ihr auch schon mal in Mailand und kennt das bunte, laute Leben in dieser Stadt, in der ich seit fünf Jahren lebe. Ihr würdet Mailand gerade nicht wiedererkennen. Die Stadt steht still. Der sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit überfüllte Domplatz ist menschenleer und wurde den Tauben überlassen. Die Boutiquen der eleganten Via Monte Napoleone sind geschlossen. Die Tische vor den Bars und Cafés auf dem Corso Garibaldi sind verwaist.

Ich selbst lebe mit meinem italienischen Freund und unserer sechs Monate alten Tochter auf 50 Quadratmetern im Nordwesten von Mailand, in einem Viertel mit sonst typisch italienischer Geräuschkulisse aus hupenden Autos, knatternden Motorrollern und wild gestikulierenden, in ihr Handy schreienden Menschen. Nun herrscht auch hier Stille. Die letzte Lärmquelle sind die Trambahnen, die leer ihre Routen abfahren.

In dieser absoluten Ausnahmesituation haben wir sogar noch Glück, denn zu unserem Mini-Reihenhaus gehört auch ein kleiner Garten, für den wir – und vor allem unsere bewegungsbedürftige Hündin – sehr dankbar sind. Ein wahrer Luxus in diesen Zeiten! Ich hätte nie gedacht, dass sich Gartenarbeit für mich mal mehr nach Lebensaufgabe als nach Wochenendhobby anfühlen könnte.

Überhaupt hat sich in den vergangenen Wochen so einiges verändert. Ich möchte gerne fünf Dinge mit euch teilen, die mich die Ausgangssperre in Italien gelehrt hat.

1. Ausgangssperre ist wie Trauer

Seit Anfang März gilt bei uns eine Ausgangssperre. Es war nicht leicht, diese durchzusetzen. Ich finde, man kann den Verlauf tatsächlich mit den fünf Phasen der Trauer vergleichen:

  • Leugnen: Erst wurde die Notwendigkeit des zu Hause Bleibens geleugnet, als übertrieben abgetan. Und auch ich ging weiterhin auf den Wochenmarkt, in den Park und ins Restaurant.
  • Wut: Es folgte eine Welle der Wut, als Kitas und Schulen geschlossen und berufstätige Eltern vor eine wirklich schwierige Aufgabe gestellt wurden.
  • Verhandeln: Schnell wurde über das in Italien noch wenig verbreitete Smart Working verhandelt.
  • Depression: Als klar wurde, dass das öffentliche Leben wirklich komplett lahmgelegt werden würde, folgte die Depression, in der wir uns alle furchtbar selbst bemitleideten.
  • Vernunft: Schließlich siegte die Vernunft und selbst die sonst so beratungsresistenten Italiener sahen ein, dass sie die Situation akzeptieren und sich zum Wohle aller ausnahmsweise an die Regeln halten müssen.

Seither sind unsere Straßen menschenleer und vor Supermärkten und Apotheken wird mit Sicherheitsabstand in langen Schlangen angestanden.

2. Die italienische Bürokratie läuft zur Hochform auf

Italien ist ja berühmt und berüchtigt für seine abstruse Bürokratie. Während Corona hat diese sich nun selbst übertroffen: Wer draußen unterwegs sein will, muss ein offizielles Formular mit sich führen, worin der Grund fürs Hausarrest-Brechen genannt wird. Konkret: Wenn ich unseren Hund Gassi führe, benötige ich ein offizielles Dokument, auf dem ich eingetragen habe, dass ich gerade Gassi gehe. Andernfalls droht mir im Falle einer Polizeikontrolle eine hohe Geldstrafe.

Was ich offiziell noch darf:

  • Dringende Besorgungen erledigen, also zum Supermarkt, in die Apotheke, Drogerie und zur Bank. Aber nur auf direktem Wege und mit Maske (von denen es nicht genug gibt) oder Schal.
  • Spazieren gehen, aber nur in einem Radius von 200 Metern von zu Hause. Gilt übrigens auch fürs Gassi gehen (ich mache mich also jeden Tag strafbar, weil der nächste Grünstreifen exakt 450 Meter entfernt ist).

3. Ein schönes Zuhause ist die halbe Miete

In Italien heißt es, dass Miete – wörtlich übersetzt – weggeworfenes Geld sei. Nur etwa ein Viertel der Italiener wohnt zur Miete. Die Idealvorstellung ist, direkt vom Elternhaus in eine Eigentumswohnung zu ziehen. Das erklärt auch, warum viele Italiener so lange bei ihren Eltern wohnen, was zwar bequem, aber in einer Situation wie der jetzigen nicht immer spaßig ist.

Es gibt aber auch hier Menschen, die in überteuerten, winzigen Einzimmerwohnungen hausen, weil sie der Meinung sind, dass es beim Wohnen vor allem auf eine zentrale Lage ankäme. Genau diese Personen haben es jetzt so richtig blöd getroffen.

Es war noch nie so wichtig, in einem Zuhause zu leben, in dem man sich wohlfühlt und gerne Zeit verbringt. Auch wir haben unser kleines, aber gut organisiertes Häuschen in den vergangenen Wochen noch mehr zu schätzen gelernt. Wir investieren mehr Zeit denn je ins Aufräumen, Putzen und Garten pflegen.

4. Man kann fast alles zu Hause machen

Homeoffice ist für meinen Partner und mich nichts Neues. Dass unser Häuschen nun auch als Fitnesscenter, Bar und Spielplatz herhalten muss, war so nicht geplant. Aber es funktioniert:

  • Mein Yoga-Abo nutze ich in virtuellen Sitzungen per Streaming,
  • der Aperitivo mit Freunden findet per Zoom oder Skype auf der Couch statt
  • und unsere Tochter lernt nicht auf einer Decke im Parco Sempione krabbeln, sondern bei uns im Garten.

Alles läuft anders anders geplant und doch kann ich mich nicht beschweren, denn ich merke: Auch zu Hause müssen wir auf (fast) nichts verzichten.

5. Ausgangssperre muss nicht Einsamkeit bedeuten

Die wohl größte Überraschung in den vergangenen Wochen ist die Hilfsbereitschaft, die auch in Mailand überall zu spüren ist. Junge Leute gehen für Rentner einkaufen. Körbe mit Lebensmitteln hängen von Balkonen, damit sich Obdachlose daran bedienen können. Single-Arbeitskollegen verabreden sich zum gemeinsamen Abendessen per Videokonferenz.

Und in unserem Hinterhof höre ich jeden Abend lauten italienischen Schlager, mit dem der DJ von gegenüber die Nachbarschaft beschallt. Anstatt der Carabinieri tauchen Nachbarn auf ihren Balkonen auf und singen lauthals mit.

Was ich nach der Ausgangssperre für die Zukunft mitnehmen möchte

Die sonst eher ruppigen und desinteressierten Mailänder zeigen sich in der Corona-Zeit hilfsbereit, aufgeschlossen und freundlich – und das ist wirklich schön zu sehen und macht Hoffnung für die Zukunft.

Es ist längst nicht alles schlecht im Moment und ich persönlich möchte gerne einige Dinge auch nach Corona beibehalten.

  • Entschleunigen klingt zwar doof, tut aber wahnsinnig gut. Ich genieße die Zeit, die ich für meine Familie und mich habe, intensiver und erlebe sie bewusster. Jeden Tag einzeln anzugehen, hat sich in meinem sonst ruhelosen Mailand als Wohltat entpuppt.
  • Unsere Medien sind derzeit von vielen negativen Nachrichten geprägt. Vor kurzem habe ich daher beschlossen, meinen Nachrichtenkonsum und meine Zeit in sozialen Netzwerken zu begrenzen. Und diese leichte Form von Digital Detox tut richtig gut.
  • Mein Partner und ich wollen weiter an unserem Zuhause arbeiten, es innen und außen pflegen, mit Kreativität gestalten und uns an der gemeinsamen Arbeit erfreuen und sie nicht als lästige Pflicht betrachten.
  • Die Coronakrise hat mir deutlich vor Augen geführt, was wirklich wichtig ist: meine Familie, mein Zuhause und das Hier und Jetzt. Dankbar und mit großer Freude erlebe ich meine Tochter, die jetzt Brei isst und gerne krabbeln möchte, es aber noch nicht richtig kann und dabei ganz furchtbar niedlich aussieht.
  • Außerdem möchte ich auch nach der Coronakrise gnädiger mit mir selbst sein, denn das gelingt mir im Moment recht gut. In dieser schwierigen Situation klopfe ich mir jeden Abend gedanklich selbst auf die Schulter und sage mir: gut gemacht, wieder ein Tag geschafft. Und dabei merke ich, dass es ein wahrer Stimmungsaufheller ist, sich auch mal selbst zu loben.

Es wäre schön, wenn wir uns nach der Krise an die vielen guten Momente erinnern könnten. Dann ist mir um die Zukunft nicht bange. Und bis es so weit ist, bleibe ich geduldig und gehe weiterhin mit Maske und schriftlicher Ausgeherlaubnis um den Block.

Herzliche Grüße aus Mailand – bleibt bitte gesund!

Franca

Über Franca Meyerhöfer:

Die Münchnerin hat ihr Zuhause in Mailand gefunden, wo die 34-Jährige mit Freund, Tochter und Hund in einem kleinen, aber feinen Häuschen mit Garten lebt. An ihrer neuen Heimat liebt sie nicht nur das gute Essen, sondern auch, dass sie hier niemand schief ansieht, wenn sie viel, laut und gestenreich spricht.

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